Zwischen der Art, wie eine Gesellschaft ihren wesentlichen Lebensinhalt organisiert, und der Art, wie in ihr gewandert wird, besteht eine weitgehende Analogie.
Norbert Richter (wandern-denken.de)
In letzter Zeit haben mich vor allem zwei Texte in meinem Nachdenken über das Wandern begleitet. Zum einen ist das Draußen gehen. Inspiration und Gelassenheit im Dialog mit der Natur und zum anderen ein Konvolut an Texten von Norbert Richter unter dem Schlagwort Theorie auf seiner Webseite wandern-denken.de.
Während Sauer mich sinnlich verzauberte und darüber hinaus ein Geschenk mir lieber Menschen war, regte Richter mein kritisches Denken über das Wandern an. Exemplarisch dafür steht sein Text Über das Wandern aus dem das Eingangszitat stammt.
Ich beziehe das Zitat Richters nicht nur auf die Gesellschaft als Ganzes, wobei ich ihm zustimme, dass wir das Wandern oder längeres Gehen insgesamt zu(un)rechtstutzen. Freilich, Richter bezieht es historisch darauf, dass im Nationalsozialismus das Wandern zum Geländemarsch wurde, bei uns heute ist es ein Nachlaufen vorgezeichneter Wege in Etappen. Der Idee der Analogie könnte man noch weiter folgen und fragen wie die aufkommende Wanderbewegung mit der Gesellschaft im Kaiserreich zusammenhing oder wie Wandern im palästinazentrierten Zionismus verstanden wurde und was dessen Praxis im Yishuv über die (geplante) Gesellschaft aussagt. Aber das ist nicht die Aufgabe dieses Textes.
Richter, der seine Analogie und seine Ideologiekritik im nächsten Absatz wieder einfängt, bezieht seine Gedanken auf gesamtgesellschaftliche Vorstellungen, wie zu leben und zu wandern sei. Ich denke, diese Analogie ließe sich auch auf das Individuum beziehen. Denke ich nämlich an mein eigenes Wanderverhalten, dass ich oft möglichst schnell und ohne große Pausen durch eine Route durchhetze, spiegelt sich in meinem durchgetakteten und sich teilweise als etwas schnell anfühlenden Alltag. Dieser Alltag ist klar geplant und getaktet. Dagegen habe ich nichts. Doch beim Wandern habe ich bemerkt, dass es mich stört.
Während des Laufens allerdings, habe ich oft Angst, die Strecke nicht zu schaffen. Bei unseren normalen Spaziergängen von ungefähr 15 Kilometer länge (plus minus 5 Kilometer), müsste das eigentlich vollkommen irrelevant sein. Die wenigen Male, die ich aufgebrochen bin und eine Strecke schaffen musste (weil ich es so geplant hatte oder eine Unterkunft reserviert), fühlte ich mich immer getrieben. Jedes Mal habe ich es nicht nur gut geschafft, sondern war oft auch ziemlich früh an meinem Zielort. Dann stieg in mir auch der Frust darüber, dass ich mir nicht mehr Zeit gelassen habe.
Genau deshalb habe ich mir vorgenommen, langsamer zu wandern. Den Blick mehr auf die Landschaft, Flora und Fauna zu lenken. Das ist in der Regel mein größtes Bedauern nach einer Wanderung oder einem Gang: Mir nicht mehr Zeit gelassen zu haben, um die Umgebung wahrzunehmen und auf mich wirken zu lassen. Ob dieser Versuch des veränderten Gehens auch eine Wirkung auf die Organisation meines wesentlichen Lebensinhaltes, wie es Richter formuliert, hat, muss sich noch erweisen.
Allerdings ist mein momentaner Hauptinhalt meines Lebens das Verfassen meiner Dissertation und gerade bin ich dabei nicht nur äußerst strukturiert und organisiert, sondern auch beständig dabei, mein Ziel zu erreichen. Inwiefern es hier einen Zusammenhang gibt, wird aber schwer sein festzustellen, denn es gibt noch viele weitere Parameter, die mein Leben beeinflussen. So wird es am Ende wohl weiter Sache meiner eigenen Vorstellung von mir und meinem Wandern sein, die darüber bestimmt, ob es hier eine Analogie gibt, wie Richter in Bezug auf Gesellschaften meint.
25.05.2022
Unter dem Stichwort Gedanken über das Wandern halte ich Gedankengänge über mein Wandern fest. Es sind unabgeschlossene, fragende und vor allem fragmentarische Annäherungen an das, was ich unter Wandern verstehe. Es sind Reflexionen meiner Praxis des Gehens, um mich immer wieder zu befragen, was ich da tue.